Deutschlandfunk - Büchermarkt (Germany) 24.10.2004
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Stephen Vizinczey: Wie ich lernte, die Frauen zu lieben. Die amourösen
Erinnerungen des András Vajda. Roman. Aus dem Englischen
von Carina von Enzenberg. SchirmerGraf Verlag, München. 308
Seiten, 19,80 Euro.

Manche Bücher brauchen Jahre, bis sie ihr Publikum finden,
und manchmal fällt es auch im Nachhinein schwer, die Ursachen
für diese verschleppten Wahrnehmungen zu benennen. Um so erfreulicher
ist es, wenn verlegerische Beharrlichkeit und Entdeckerlust zum
Erfolg führen und bedeutende Werke endlich Anerkennung finden.
So machten deutsche Leser zuletzt zum Beispiel die angenehme Bekanntschaft
mit Sándor Maraís Glut, Kressmann Taylors
Adressat unbekannt oder Antál Szerbs Reise
im Mondlicht, mit Romanen also, die hierzulande verschollen
oder gänzlich unbekannt waren und erst mit einer Verzögerung
von mehrerer Jahrzehnten aus der Abstellkammer der Literaturgeschichte
hervorgeholt wurden.
Dem 1933 in Ungarn geborenen und heute in London lebenden Stephen
Vizinczey könnte eine vergleichbare Entdeckung bevorstehen.
Seine Bücher fanden und finden Anklang in vielen Ländern,
erreichten hohe Auflagen und wurden mit Preisen ausgezeichnet, in
diesem Sommer etwa in Italien mit dem Premio Isola dElba,
der in der Vergangenheit an Autoren wie Alexander Kluge, Tomasso
Landolfi, Michel Tournier oder Mario Luzi ging. In Deutschland blieb
es bei halbherzigen Versuchen, Vizinczey bekannt zu machen, und
so ist es mutig und lobenswert, wenn der neu gegründete Münchner
Verlag SchirmerGraf einen neuen Anlauf unternimmt, einen intelligenten
Erzähler wie Stephen Vizinczey in Neueditionen zu präsentieren.
Nachdem SchirmerGraf in diesem Frühjahr Vizinczeys Essays
Die zehn Gebote eines Schriftstellers veröffentlichte,
die in begeisterter Weitschweifigkeit Heinrich von Kleist oder Stendhal
preisen, in bissigen Randbemerkungen Goethe und Thomas Mann abtun
und auf diesem Umweg nach Lüge und Wahrheit in der Literatur
fragen, liegt nun jener Roman hervor, der 1965 im Selbstverlag
in Toronto erstmals erschienen Vizinczeys Renommee als hoch
gebildeten und zugleich skandalträchtigen Schriftsteller begründete.
In Praise of Older Women heißt dieser erotische
Bildungsroman im Original, und die Mühsal, den Text adäquat
ins Deutsche zu bringen, zeigt sich bereits in der Wahl des richtigen
Titels. Zwei Übersetzer und Verlage hatten damit in der Vergangenheit
gerungen: 1967 wagte der Scherz Verlag die je nach Standpunkt
kühne oder dümmliche Übertragung Frauen
zum Pflücken, die einem leichten Schauder über den
Rücken jagt. Knapp fünfzehn Jahre später gab sich
Klett-Cotta solider, degradierte das weibliche Geschlecht nicht
zum überreifen Obst und hielt sich mit der Titelwahl Lob
der erfahrenen Frauen enger an das Original.
Und nun? Carina von Enzenbergs elegante, gelegentlich mit dem Konjunktiv
auf Kriegsfuß stehende Neuübersetzung trägt einen
auf den ersten Blick irreführenden Titel: Wie ich lernte,
die Frauen zu lieben ist zwar zeitgemäß aufgefrischt,
unterschlägt jedoch eine entscheidende Komponente des Romans:
Vizinczeys Absicht, das Loblied auf eine bestimmte weibliche Altersgruppe
zu singen, auf Damen, die über Erfahrungen verfügen und
bereit sind, lernwillige Novizen an diesem Schatz teilhaben zu lassen.
Wie ich lernte, die Frauen zu lieben unterschlägt
diese Eingrenzung, gewiss, doch im Gegenzug muss man einräumen,
dass damit ein Titel gefunden wurde, dessen indirekte Frage Lehrreiches
verspricht und nicht mit der Tür ins Haus fällt: Dass
Stephen Vizinczeys Romanheld den mit Marcel Proust gesprochen
Glücksversprechungen junger Mädchenblüte
misstraut, erschließt sich so Schritt für Schritt, mit
jeder neuen Erfahrung, die der liebeshungrige Protagonist macht.
Und nicht zuletzt: Der neue Titel erinnert an François Truffauts
großartigen Film Der Mann, der die Frauen liebte,
an jene traurig komische Lebensbeichte des Ingenieurs Bertrand Morane,
bei dessen Beerdigung sich ausschließlich Frauen einfinden,
die allesamt zu wissen glauben, dass ihr einstiger Geliebter ihre
Seele verstand, und denen es herzlich gleichgültig ist, dass
sie nicht allein von diesem Einfühlungsvermögen profitierten.
Truffauts und Vizinczeys Hauptfiguren ist gemeinsam, dass sie Frauen
nicht als austauschbare Objekte ansehen. Ihre Eroberungen sind erfolgreich,
weil sie versuchen, das Geheimnis aller von ihnen begehrten Frauen
zu erforschen, und ihren Partnerinnen das Gefühl geben, als
Person geachtet und geliebt zu werden. Truffaut und Vizinczey statten
ihre Hommes à femmes nicht mit überdimensionierten maskulinen
Zügen aus; sie sind sympathische Verführer, die keinen
Zweifel daran lassen, dass erst der Tod sie daran hindern wird,
sich zu neuen Ufern aufzumachen. Wer liebt, wird geliebt werden
so die einfache Formel:
Wenn Sie Frauen tief im Innern hassen, wenn Sie davon träumen,
sie zu demütigen, wenn Sie es genießen, sie herumzukommandieren,
werden sie es Ihnen wahrscheinlich mit gleicher Münze heimzahlen.
Sie werden Sie in dem Maße begehren und lieben, wie Sie sie
begehren und lieben und gepriesen sei ihre Großzügigkeit.
Vizinczeys Roman kommt als fingierte Lebensgeschichte einher, die
stark autobiografische Züge trägt. Die amourösen
Erinnerungen des András Vajda kündigt der Untertitel
an: Der an der University of Michigan lehrende Philosophieprofessor
Vajda blickt auf sein Leben zurück, das erst gut drei Jahrzehnte
umfasst und dennoch eine Vielzahl von Schicksalsschlägen aufweist.
Aufgewachsen im Ungarn der dreißiger Jahre, verliert der zweijährige
András seinen Vater, als dieser von einem nationalsozialistischen
Fanatiker ermordet wird. Seine Mutter und er verlassen die Hauptstadt
und lassen sich im Westen Ungarns, im Städtchen Székesfehérvár,
nieder. Dort bleiben sie von den politischen Schrecken verschont,
bis die Deutschen 1943 Székesfehérvár zur Garnison
machen und die Familie Vajda schließlich in die Flucht nach
Österreich schlagen. Erst 1946 kehrt man nach Ungarn zurück;
zehn Jahre später zwingt der niedergeschlagene Oktoberaufstand
von 1956 András dazu, seine Heimat für immer zu verlassen
und über Italien nach Kanada auszuwandern, wo er seine philosophische
Studien abschließt.
Vizinczeys Roman zieht seine Faszination daraus, dass er politisches
und privates Leben unaufdringlich miteinander verknüpft. Die
frühreifen Neigungen des Kindes András lassen sich vom
Geschick seines Heimatlandes nicht trennen. Immer wieder
mal unterschwellig, mal offenkundig bringen es die gesellschaftlichen
Umstände mit sich, auch das persönliche Verhalten zu überdenken,
und immer wieder gerät András Liebesleben unter
den Einfluss der Politik. Ungarns Geschichte ist eine Geschichte
des Verlierens und des Durchhaltens, eine Erfahrung, die sich
im Kampf gegen die russischen Besatzer eindringlich bewahrheitet.
András fühlt eine Art mystische Verbundenheit
mit seinem Land, ehe er begreift, dass er als herumtändelnder
Internationalist dem Glauben abschwören wird, dass es
für jeden Menschen nur eine wahre Heimat geben
kann.
Die äußeren Umstände sind es auch, die András
vor der Zeit mit rohen sexuellen Realitäten konfrontieren.
Für die amerikanischen Armeeangehörigen wird der gewitzte
Junge zu einer wichtigen Kontaktperson, der die in Nöten geratenen
Frauen der Gesellschaft dezent zu Soldaten führt, die Liebesdienste
mit Zigaretten, Rindfleisch und Milchpulver entlohnen. András
Lehrzeit weckt seine Begierde, sich selbst ins erotische Getümmel
zu stürzen, und sie zeigt ihm schonungslos, dass Wort und Tat
in einer Gesellschaft deutlich auseinanderklaffen, wenn es um Sexuelles
geht:
Meine erste Erkenntnis dank dieser abenteuerlichen Beschäftigung
war, dass die meisten moralischen Ansichten über Sex keinerlei
Bezug zur Wirklichkeit hatten. Diese Erkenntnis machte sich auch
unter den staunenden, ehrbaren, mitunter sogar hochnäsigen
Frauen aus der Mittelschicht breit, die ich vom überfüllten,
armseligen ungarischen Lager zu den amerikanischen Kasernen führte.
Gegen Kriegsende, als selbst die Österreicher nahezu alles
bitter benötigten, gab es für die Hunderttausenden von
Flüchtlingen kaum mehr das zum Überleben Notwendige. (...)
Stolz und Tugend, die den Frauen in ihrer heimischen Umgebung so
wichtig gewesen waren, besaßen im Flüchtlingslager keinen
Wert mehr. Errötend, aber nicht selten in Gegenwart ihrer schweigenden
Ehemänner und Kinder, fragten sie mich, ob die Soldaten Geschlechtskrankheiten
hätten und was sie ihnen bieten könnten.
Auf diese Weise in das Wesen der Doppelmoral eingeführt, macht
sich András nach seiner Rückkehr sofort daran, die Theorie
in lustvolle Praxis umzusetzen. Hartnäckig, vom Eifer des echten
Enthusiasten getrieben, verfolgt er seine Ziele und erkennt, dass
sich die Ungeübtheit eines Mannes am raschesten beseitigen
lässt, wenn er sich den Händen einer erfahrenen Lehrmeisterin
anvertraut. Die Hölle, die heranwachsende Jungen und Mädchen
erfahren, muss nicht gemeinsam durchlitten werden, und so duldet
es für András keinen Zweifel, wie er seinen Horizont
erweitern und seine erotischen Fertigkeiten schulen wird:
Mit jemandem ins Bett gehen zu wollen, der so unerfahren
ist wie man selbst, erscheint mir ungefähr so vernünftig,
wie als Nichtschwimmer mit einem Menschen, der nicht schwimmen kann,
in tiefes Wasser zu gehen. Selbst wenn man nicht ertrinkt, kriegt
man einen Schock fürs Leben.
András Suche ist Erfolg beschieden: Maya Horvath,
eine verheiratete Volkswirtin mit Tagesfreizeit, nimmt sich des
unruhigen Knaben an und führt ihn die aufregenden Geheimnisse
abwechslungsreichen Beischlafs ein. Maya erweist sich als ideale
Lehrerin, die ihr Vergnügen sucht und gleichzeitig gewillt
ist, ihren Zögling ernst zu nehmen. Die Stunden mit ihr werden
für András zur Initialzündung, die sein ganzes
Leben steuert. Maya verkörpert erotischen Genuss, der weit
mehr als kurzfristige Triebbefriedigung ist. Auch im Rückblick
des situierten Hochschullehrers in Ann Arbor bleibt für András
die Erfahrung seiner Jugend so sinnlich, als läge das Tête-à-tête
mit Maya erst wenige Tage zurück:
Dann liebten wir uns, vom sonnigen Nachmittag bis lange nach
Einbruch der Dunkelheit. Ich habe seit jenen zeitlosen Stunden nicht
mehr viel dazugelernt: Maya brachte mir alles bei, was man wissen
muss. Dabei ist beibringen nicht das richtige Wort:
Sie bereitete uns beiden einfach Freude, und ich merkte gar nicht,
wie ich meine Unwissenheit abstreifte, während ich die fremden
Territorien ihres Körpers erkundete. Sie fand Vergnügen
an jeder Bewegung oder auch nur daran, meine Knochen und
meine Haut zu befühlen. Maya gehörte nicht zu den Frauen,
die im Orgasmus die einzige Belohnung für eine langweilige
Verrichtung sehen: Mit ihr war die Liebe eine Vereinigung, keine
Selbstbefriedigung zweier Fremder im selben Bett. Sieh mich
an, sagte sie rechtzeitig zu mir, bevor sie kam, es
wird dir gefallen.
Sex ist für den derart eingeführten András keine
angenehme sportliche Disziplin und kein Mittel, möglichst viele
Eroberungen zu machen. Der Reigen seiner Gefährtinnen ist groß,
doch nie erscheinen diese fast immer reifen Frauen
als austauschbare Objekte, als Opfer eines männlichen Bedürfnis
nach Machtausübung. Ilona, Zsuzsa, Boby, Nusi
András
Bekanntschaften verfügen über Charakter und Stärke;
es sind selbstbewusste Frauen, die es dem jugendlichen Liebhaber
nicht zu leicht machen. Und manchmal sind sein Geschick und seine
Überzeugungskraft besonders gefragt, so etwa bei der Italienerin
Paola, die die ungarischen Flüchtlinge betreut und aufgrund
ihrer Sprödigkeit gänzlich ungeeignet scheint, in die
Fänge des attraktiven Studenten zu geraten. Doch gerade Paola,
die sich selbst als frigide bezeichnet, erweist sich als kongeniale
Partnerin und fordert die intellektuellen Fähigkeiten ihres
Geliebten heraus. Sie ist es, die sein philosophisches Interesse
schürt, ihn zur Beschäftigung mit Jean-Paul Sartre auffordert
und dadurch seinen weiteren Lebensweg als Philosoph und auch
das Ende ihrer Partnerschaft vorbereitet.
Vizinczeys Wie ich lernte, die Frauen zu lieben ist
kein Roman für Besucherinnen von Lesekränzchen, die von
Literatur erwarten, sie möge die offiziellen Fundamente von
Moral und Anstand stärken. Dennoch ist dieses Buch bei all
seiner Freizügigkeit keine Lobrede auf die Bindungsunfähigkeit
des modernen Mannes oder auf die Skrupellosigkeit im Umgang mit
anderen. Nein, der Preis, den András für seine Art der
Lebensführung zu zahlen hat, wird genannt. In der Rückschau
erscheint ihm sein Leben als Abfolge von Einblendungen und
Ausblendungen, als Kreislauf, bei dem alles, was er gewann,
auch verloren wurde. Und ohne Umschweife erkennt er an, dass sein
Unvermögen, an die dauerhafte Liebe zu glauben, zwangsläufig
zu Verletzungen führt: am eigenen Leib und im Herzen derjenigen
Frauen, die in schöner Regelmäßigkeit aus dem Brennpunkt
des männlichen Interesses verschwinden. Mit moralisch sauberer
Weste kommt man als nimmermüder Frauenbetörer nicht durchs
Leben:
Eines Tages vertraute ich mein Problem meiner neuen Geliebten
an und jammerte, dass ich nicht wisse, was schlimmer für Nusi
sei: wenn ich sie verließ oder wenn wir so weitermachten.
Mein Lieber, stellte sie seufzend fest, du hast
es hier nicht mit einem moralischen Problem zu tun, sondern mit
einem Fall extremer Eitelkeit.
Ein paar Tage später hatte ich mit Nusi einen heftigen Streit.
Sie warf mir vor, ich langweile mich bei ihr, und ich behauptete,
ich liebe sie so sehr wie immer, und unser einziges Problem sei
ihr argwöhnisches Wesen. Da sie mir nicht recht glaubte, räumte
ich schließlich ein, dass sie Recht hatte, und schlug ihr
die Trennung vor.
Nach einer Weile düsteren Grübelns straffte sie die Schultern
und sah mit ihren riesigen Augen durch mich hindurch. Nun,
es endet so, wie ich es mir immer gedacht habe. Wenn mich nur mal
jemand überraschen würde!
Vizinczeys episodischer Roman lebt nicht von einer ungewöhnlichen
Dramaturgie oder besonders ausgefeilten Spannungsbögen. Er
ist ein Text, den letztlich die philosophische Bestimmung der Liebe
leitet und der versucht, durch beharrliche Reflexion Gewissheit
über die Gesetze von Zu- und Abwendung zu erlangen. Es wundert
nicht, dass die kanadische Verfilmung von 1978 unter dem
nichtssagenden Titel Lust auf Liebe dieser Qualität
des Buches nicht gerecht werden konnte. Vizinczey bewegt sich auf
der Bühne seines eigenen Lebens, und ganz erstaunlich ist es,
dass dieser von einem gerade einmal 32-Jährigen geschriebene
Roman nichts Altkluges und Prätentiöses an sich hat. Es
gibt wenige Bücher, denen es gelingt, Neues, ja Überraschendes
über die Liebe zu erzählen und Erkenntnisse gelassen auszubreiten,
die der bürgerlichen Moral hohnsprechen und diese dennoch als
Widerpart ernst nehmen. Wie ich lernte, die Frauen zu lieben
gehört fraglos dazu.
Ein belesener Autor wie Stephen Vizinczey kommt nicht umhin, die
Erfahrungen seines Lebens mit jenen zu vergleichen, die ihm in der
Weltliteratur begegnen. Einer der Säulenheiligen in Vizinczeys
Aufsätzen Die zehn Gebote des Schriftstellers ist
der Franzose Stendhal, dessen Traktat er Über die Liebe
detailliert kommentiert. Und auch Stendhals Rot und Schwarz
zählt zu Vizinczeys Lieblingslektüren, geht es in diesem
Roman doch auch darum, wie ein von Ehrgeiz gepackter junger Mann
Julien Sorel seine Karriere plant und welche Rolle
die Frauen in diesem Intrigenspiel einnehmen. Die Art und Weise,
wie Sorel sich selbst Mut zuspricht und es endlich wagt, beim nächtlichen
Gartengespräch nach Madame de Rênals Hand zu greifen,
rüttelt András Vajda auf und lässt ihn die Initiative
ergreifen.
Nachdem ich die Worte wieder und wieder gelesen, warf ich
das Buch auf mein Bett, verließ türknallend die Wohnung
und fuhr mit dem Aufzug nach oben. Wenn ich diesmal nicht den Mumm
habe, nahm ich mir vor, geh ich hinunter zur Donau und ertränke
mich. Ich beschloss jedoch, meinen Selbstmord bis Einbruch der Dunkelheit
zu verschieben, da mich tagsüber Passanten entdecken und herausfischen
könnten. Als ich bei den Horvaths klingelte, war ich mir nicht
ganz sicher, ob ich es fertig bringen würde, Maya meine Frage
zu stellen, aber für mich stand fest, dass ich mich, sollte
ich versagen, noch am selben Abend umbringen würde.
Der Gang zur Donau bleibt András erspart, denn Stendhals
Rot und Schwarz gibt András genügend Kraft, Maya
Horvath seine Beischlafabsichten zu gestehen, und dem ersten Liebesspiel
mit der erfahrenen Nachbarin steht nichts mehr im Wege. Literatur
greift manchmal direkt ins Leben ein; daran lässt Vizinczeys
Roman keinen Zweifel.
Reflexionen über die Liebe und Reflexionen über das Leben
im Ungarn der fünfziger Jahre machen aus diesem Buch eine leicht
dahinfließende und melancholisch grundierte Lektüre.
Vizinczeys Alter Ego ist dabei hart gegen sich selbst. Ohne missionarischen
Eifer und mit großem psychologischen Verständnis betont
er in seinen Erinnerungen, dass derjenige, der nicht an die ewige
Liebe glaubt und es zudem für möglich hält, mehrere
Menschen gleichzeitig zu lieben, kein Subjekt ist, dem mit moralischen
Vorwürfen beizukommen ist. András Vajda lernt nach und
nach, dass Schuldgefühle fehl am Platze sind, wenn sich der
Wunsch nach dauerhafter Zweisamkeit als Fiktion erweist. Dies anzuerkennen
und sein Gegenüber darüber nicht zu täuschen macht
die Kunst des Liebens und die Kunst des Lebens aus.
Es ist weniger schmerzlich, sich einzureden Ich bin
oberflächlich, Sie ist egozentrisch, Wir
haben uns nicht verstanden oder Es war rein körperlich,
als die schlichte Tatsache zu akzeptieren, dass Liebe ein vergängliches
Gefühl ist, und zwar aus Gründen, auf die wir keinen Einfluss
und die nicht einmal mit unserer Persönlichkeit zu tun haben.
Aber wer kann sich schon selbst mit rationalen Überlegungen
trösten? Kein Argument vermag die Leere zu füllen, die
ein abgestorbenes Gefühl zurücklässt und die uns
an die endgültige Leere, an unsere letztendliche Treulosigkeit
erinnert. Sogar dem Leben sind wir untreu.
Am Ende verlieren wir diesen unvergesslichen Lebensvirtuosen András
Vajda aus den Augen. Seine ungezwungene Beichte endet mit dem Ausblick
auf die Abenteuer eines Mannes in mittlerem Alter, doch
das sei eine andere Geschichte. Ob wir diese von Stephen
Vizinczey je erzählt bekommen, ist fraglich. Immerhin: Der
Verlag bereitet eine Neuausgabe seines Romans Der unschuldige
Millionär vor, und dem Anschein nach ist Vizinczey dabei,
ein neues Buch abzuschließen. Die Wiederentdeckung eines großen
europäischen Schriftstellers ist noch nicht zu Ende.
Rainer Moritz


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